Das Bezirksgericht Baden AG hat am 14. Februar 2023 ein Elternpaar vom Vorwurf der Verstümmelung der Genitalien seiner fünf Töchter freigesprochen. Der Fall zeigt exemplarisch die Schwierigkeiten auf, welche mit Artikel 124 des Strafgesetzbuches verbunden sind.
Die Schweiz hat 2012 die weibliche Genitalverstümmelung (FGM/C) mit einem expliziten Verbot im schweizerischen Strafgesetzbuch unter Strafe gestellt (Art. 124 StGB). Bestraft wird nicht nur die Person, welche die Beschneidung durchgeführt hat, sondern auch Eltern oder Verwandte, welche sie veranlasst oder ihr zugestimmt haben.
Das Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz befürwortet klar eine strafrechtliche Verfolgung von FGM/C. Die von der Schweiz getroffene Regelung geht jedoch weit über das hinaus, was andere europäische Länder wie beispielsweise Frankreich oder Deutschland, vorsehen.
Ziel war es ursprünglich, zu verhindern, dass hier lebende Mädchen in den Schulferien zum Zwecke der Genitalbeschneidung ins Ausland gebracht werden. Der Wortlaut von Artikel 124 des Strafgesetzbuches lässt es hingegen zu, dass die Schweiz die weibliche Genitalbeschneidung universell ahnden kann. Dies unabhängig davon, ob die Praktik am Ort des Geschehens strafbar ist oder ob die beschuldigte Person zum Tatzeitpunkt einen Bezug zur Schweiz hatte (sog. Weltrechtsprinzip). Somit können Taten im Ausland strafrechtlich verfolgt werden, die – wie im Fall Baden – lange vor Einreise in die Schweiz stattgefunden haben. Als einziger Bezug zur Schweiz genügt, dass sich die beschuldigte Person zur Zeit des Strafverfahrens in der Schweiz befindet und nicht ausgeliefert wird.
Diese Regelung birgt Tücken. Es besteht die Gefahr, dass betroffene Mädchen und Frauen, welche in ihrem Herkunftsland beschnitten wurden, aus Angst vor einem Strafverfahren keine Beratung oder medizinische Hilfe in Anspruch nehmen. Auch die Expertengruppe des Europarates (Grevio), welche die Umsetzung der Istanbul-Konvention in der Schweiz überprüft, kritisiert den weiten Anwendungsbereich von Art. 124 des Strafgesetzbuches (Link zum Bericht: siehe weiter unten). Es gelte zu überprüfen, ob die getroffene Regelung nicht im Widerspruch zur Verpflichtung der Schweiz stehe, die Versorgung und den Schutz von beschnittenen Mädchen und Frauen zu gewährleisten.
In Baden endete die Gerichtsverhandlung mit einem Freispruch (das Urteil ist noch nicht rechtskräftig). Dies nicht zuletzt, weil die Tatumstände nicht restlos geklärt werden konnten und weil nicht ersichtlich wurde, ob den beschuldigten Personen das Unrecht ihrer Tat zum Tatzeitpunkt bewusst war. Letzteres ist wenig erstaunlich, zumal FGM/C in Somalia weit verbreitet ist und eine soziale Norm darstellt: Rund 98% der Mädchen und Frauen sind beschnitten; trotz verfassungsrechtlichem Verbot fehlt ein entsprechender Tatbestand im Strafgesetzbuch. FGM/C wird im Bürgerkriegsland von den Behörden nicht geahndet.
Das Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz erachtet ein strafrechtliches Verbot im Engagement gegen FGM/C als zentral. Dieses muss aber so gestaltet sein, dass nicht gesamte Bevölkerungsgruppen kriminalisiert und die Inanspruchnahme von Unterstützung für Betroffene gefährdet werden. Der Vorschlag von Grevio, den Strafartikel 124 StGB und seine Auswirkungen auf Betroffene zu überprüfen, wird vom Netzwerk daher begrüsst.
https://www.maedchenbeschneidung.ch/netzwerk/aktuelles/artikel/freispruch-im-fall-baden-ein-kommentar-des-netzwerkes-gegen-maedchenbeschneidung-schweiz
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